„Draußen nur Kännchen“ 2 – über Wahlsonntage

Kaum je, vermutlich nie, habe ich mich über eine Passage von Asserate so sehr aufgeregt wie über den nachfolgend zitierten Absatz über die „Zeremonie des Wahlsonntages“ – erzürnte Hervorhebungen der besonders entsetzlichen Sätze von mir:

Wenn man darüber nachdenkt, wie die Demokratie Zeremonien und Rituale entwickeln kann, die ihren Bürgern die Möglichkeit geben, sich mit ihr zu identifizieren, sollte eines nicht vergessen werden: Stil läßt sich schwerlich verordnen. Rituale können vorgegeben werden, aber es dauert lange, bis sie in Fleisch und Blut übergegangen sind – wie ein neuer Schuh eingelaufen werden muß, bis er aufhört zu drücken und richtig sitzt. Am vornehmsten sind jene Zeremonien, die sich scheinbar von selbst entwickelt haben, ganz ohne daß sie par ordre de mufti verkündet wurden. Zu dieser Sorte gehört in meinen Augen auch eine Zeremonie der Demokratie – und vielleicht sogar deren schönste‚ die ich in Deutschland kennenlernen durfte: die Zeremonie des Wahlganges. In Tübingen und in anderen Orten habe ich erlebt, wie man den Wahlsonntag zelebriert. In der Regel schloß sich der Gang zum Wahllokal dem vormittäglichen Besuch des Gottesdienstes an. Geschlossen machten sich die Familien – Großeltern, Eltern und erwachsene Kinder – im Sonntagsstaat von der Kirche auf den Weg ins Wahllokal. Die Männer hatten ihren besten Anzug angelegt, und in den Regionen, wo dies üblich war, trugen die Frauen Tracht. Auch die Wahlmänner in den Wahllokalen hatten sich in Schale geworfen, die Wahllokale waren üppig mit Blumen geschmückt – ein wohltuender Kontrast zu der Schlichtheit der Örtlichkeiten, an denen gewählt wurde, zu den Resopaltischen, Schiefertafeln und Plastikstühlen. Der Wahltag galt als der höchste Feiertag der Demokratie, und zur Demokratie gehörte die strikte Wahrung des Wahlgeheimnisses. Noch im intimen Familienkreis galt dies als ganz selbstverständlich: Der Herr des Hauses mochte wohl ahnen, daß die Gattin oder der Sprößling insgeheim den »Roten« zugetan war, doch niemals wäre er auf die Idee gekommen, zu fragen, was denn die eine oder der andere gewählt habe – geschweige denn, ihnen die eigene Wahlentscheidung aufzudrängen. Gibt es diese Zeremonie des Wahlsonntags eigentlich noch? Auf dem Lande wohl schon. Ich würde mir wünschen, daß sie überall in Deutschland zu neuem Leben erwachte. Eine schönere und selbstverständlichere Feier der Demokratie scheint mir kaum vorstellbar.

S. 93 f.

Das ist reaktionäre Flitzkacke.

Zunächst einmal das Allerwichtigste, um gleichsam das Fazit vorwegzunehmen: Die Teilnahme an einer Wahl ist keine „Zeremonie“, sondern ein Recht oder meinetwegen sogar eine Ehrenpflicht, dessen Ausübung oder deren Erfüllung idealerweise vielfältige Denkprozesse und Diskussionen vorherzugehen und zu folgen haben. Der äußere Rahmen ist unerheblich, erst recht die Kleidung oder die Dekoration des Wahllokals. Entscheidend ist, daß vorher und nachher im Kreis der Freunde und der Familie über die Wahlen geredet und gestritten wird. Was Asserate hier lobt, ist keine demokratische Kultur, sondern vordemokratischer Kitsch.

Ferner stimmt es auch nicht, daß Traditionen und Zeremonien einer langen Entwicklungszeit bedürften. Unfug. Traditionen können sehr wohl erfunden, Zeremonien können sehr wohl angeordnet werden, sofern jemand die Macht dazu hat – in ein paar Jahren „sitzt das“. Aber das nur nebenbei.

Und was ist das überhaupt für ein unlogischer Quatsch: Wieso soll die Tradition heute, da sie älter ist, schwächer geworden sein als in Tübingen um 1970? Aber es geht Asserate ja auch nicht um die Demokratie, sondern um Sonntagsanzüge und Dirndl in einer schwäbischen Puppenstubenwelt, in der vielleicht einmal „der Sprößling“ „die Roten“ wählt, die große Mehrheit aber schwarz, brau oder gelb.

Und es ist nicht zu fassen, es ist so albern, daß man sich kaum getraut, es niederzuschreiben: Nach dem Gottesdienst sind sie wählen gegangen, und das findet er gut! Nachdem der Herr Pfarrer ihnen erzählt hat, welches Kreuz sie zu tragen und wo sie es zu machen haben, nicht wahr? Immerhin, Asserate findet es auch gut, daß die schwarzen Familienväter in Schwaben um 1970 ihre „Gattinnen“ und „Sprößlinge“ kaum je verprügelt haben, weil diese die SPD gewählt hatten. Wie schön, daß es damals noch „Manieren“ gab, die die Väter vor dieser lästigen Pflichterfüllung geschützt haben, indem sie ihnen die schlichte Kenntnis des Undenkbaren verwehrt haben!

Über die schauderhafte und natürlich auch mir noch bekannte Tabuisierung der Frage „Was wählst Du?“ bzw. „Was hast Du gewählt?“ im Familien- und Bekanntenkreis habe ich mich in diesem Blog in einiger Ausführlichkeit schon vor knapp zwei Monaten ausgelassen, ich kann mich also hier kurzfassen.

Derlei ist nicht demokratisch, es kommt in ihm vielmehr ein Unwille und Ekel vor dem „garstigen politischen Lied“ zum Ausdruck – als ob Wählen ein schmutziger, zumindest aber intimer Akt sei.

Und vor allem nützt dieses Beschweigen der Wahlentscheidung in der Regel den reaktionären Kräften. (Was Asserate freilich freuen dürfte.) Ich hätte diesen Rant eigentlich erst in ein paar Tagen schreiben wollen, aber das gestrige NDR-Interview mit Albrecht Müller paßt buchstäblich wie die Faust aufs Auge zu Asserates Absatz: Man höre sich die Minuten 15:00 (besonders ab Minute 17:00) bis 19:00 an! Es geht um die „Willy-Wahlen“ von 1972 (bekanntlich der größte Bundestagswahltriumph der SPD in der Geschichte der BRD) und um die leidenschaftlich politisierte Atmosphäre jener Tage. Damals wurde eben über Wahlen geredet – in den Familien, unter Freunden und Kollegen, auf den Plätzen, in den Straßen! Und damals gab es eine Wahlbeteiligung von mehr als 90 % – und nicht nur in schwäbischen CDU-Käffern!

Und genau so muß es auch sein, wenn Gegenöffentlichkeiten gegen die rechte Medienmacht geschaffen werden sollen! Gespräche, Diskussionen, Mund-zu-Mund-Propaganda, auch Streit – unter Freunden und Bekannten, in der Familie -, sie sind nicht nur Ausdruck der Verinnerlichung von Demokratie, sie sind auch unverzichtbares Hilfsmittel im Kampf gegen das Große Geld und seine Medienmacht.

Das könnte Asserate und den anderen Prinzchen und Mosebachs dieser Welt wohl gut so passen: Alle drucksen vor sich hin, sagen nichts und wählen dann doch brav das, was ihnen der Pfarrer und die Bildzeitung erzählen! :übel:

Albrecht Müller erwähnt die Willy-Plakate in den Fenstern im Herbst des 72er-Jahrs. Und ich darf hier wiederum eine persönliche Anekdote erzählen (ich habe sie hier und/oder andernorts wohl schon öfter erzählt): Zu meinen frühen Kindheitserinnerungen gehört, daß in jenen heroischen und sturmumtosten Tagen der deutsche Demokratie über dem Sofa im Wohnzimmer ein riesengroßes (jedenfalls mußte es dem fünfjährigen Klaas riesengroß erscheinen) Willy-Brandt-Wahlplakat hing. Da mußte ich Muddern dann gar nicht mehr fragen, was sie zu wählen gedachte.

Und wie schön und wichtig wäre es, wenn heute in den vom Neoliberalismus deklassierten und versklavten Familien wieder mehr über Politik geredet würde und etwas weniger über Telenovelas, Casting-Shows und anderen Privatfernsehen-Springerpressen-Unflat.

Augen auf, Hirn auf, Herz auf! Und dann des Kreizerl an der richtigen Stelle. Und vorher und hinterher: Maul auf!

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